Der Hamburger Hauptbahnhof ist seit 2010 als überlasteter Schienenweg klassifiziert [1]. Es ist keine Kapazität vorhanden, um Fernzüge am Hauptbahnhof ein- und auszusetzen, deswegen werden sie über die Verbindungsbahn nach Altona geführt. Daraus resultiert eine seit 2019 offizielle Überlastung der Verbindungsbahn. Eine Lösung für dieses Problem soll der Verbindungsbahnentlastungstunnel (VET) sein, der die Anzahl der Fernbahngleise auf der Verbindungsbahn von 2 auf 4 verdoppeln soll. Vorgesehen ist, dass die heutigen S-Bahn-Gleise für den Fernverkehr umgenutzt und die S-Bahn-Gleise in ebenjenen VET verlegt werden.
Bei einer Dialogveranstaltung am 24. Mai 2023 reagierten die VET-Projektleiter überrascht auf die Information, dass mehr als die Hälfte der Zugpaare auf der Verbindungsbahn in Altona enden (7 von 13 pro Stunde). Ohne diese Durchbindung des Fernverkehrs zwischen Hauptbahnhof und Altona ist eine Verdopplung der Kapazität der Verbindungsbahn unnötig, zumal die Fernzüge auf dieser Strecke fast leer sind und somit de facto als Betriebsfahrten fungieren.
Dazu kommt, dass die Züge bald noch leerer sein werden, da der Bahnhof Altona an den unattraktiveren Standort Diebsteich verlegt werden wird. Der neue Standort ist zentrumsfern, zudem besteht kein Anschluss mehr an die S1 Richtung Blankenese und Wedel – Fahrgäste nach Altona-Mitte sowie Benutzende der S1 von Blankenese/Wedel steigen zukünftig am Hauptbahnhof statt in Altona aus den Fernzügen aus, was zur weiteren Überlastung des Hauptbahnhofs beiträgt. Die einzig relevante Fernverkehrszielgruppe am neuen Bahnhof Diebsteich wären Umsteigende zum Regionalexpress nach Westerland. Der Grund für eine fehlende Durchbindung zum Hauptbahnhof trotz Diebsteich und VET:
Verlängerung E1 (RE Westerland — HH-Altona, Anm.) nach Hamburg Hbf derzeit aufgrund fehlender Gleiskapazität zur halben Stunde in Hamburg Hbf nicht unterstellt – Deutschlandtakt, SMA und Partner AG
Der Fernverkehr nach Diebsteich, der den VET erzwingt, soll den “Prestigebau Bahnhof Diebsteich” mit Leben füllen:
„Seitens der FHH [ist es] durchaus gewollt, dass die Bahnhöfe Dammtor und Altona in großem Stil durch diverse Fernverkehrslinien bedient werden. Dieses Paradigma gilt umso mehr vor dem Hintergrund der Eröffnung des Bahnhofs Hamburg-Altona (Neu) am Diebsteich.“ – Behörde für Verkehr und Mobilitätswende, Hamburg
Zeitgleich ist aber der Bahnhof Diebsteich ohne den VET zu klein, um den Fernverkehr aufzunehmen, ein Paradoxon entsteht:
„Am neuen Bahnhof Altona müsste [ohne den VET, Anm.] weiterhin der oberirdische S-Bahnsteig genutzt werden; eine Kapazitätserweiterung für den Regional- und Fernverkehr entfiele.“ – Behörde für Verkehr und Mobilitätswende, Hamburg
Die Funktion des VET liegt also lediglich darin, überflüssige Kapazitäten für de-facto-Leerfahrten zu schaffen. Zudem ist der Tunnel nur eine Symptombehandlung, denn die Überlastung des Hauptbahnhofs stellt das eigentliche Problem dar. Erschwerend kommen die Einschränkungen beim Bau hinzu: Wegen Kollisionen zwischen dem VET-Neubau und dem regulären Betrieb im bestehenden Citytunnel soll dieser während der Bauzeit für 6 Jahre und 8 Monate eingleisig gesperrt werden, der gesamte Citytunnel wäre für diesen Zeitraum nur in eine Richtung nutzbar:
„In diesem Falle würde die S-Bahn im Zeitraum der Sperrung (…) ausschließlich auf der Relation Hauptbahnhof – Altona durch den Tunnel [fahren]“ – Behörde für Verkehr und Mobilitätswende Hamburg
Das eigentliche Problem liegt in der Überlastung des Hamburger Hauptbahnhofs, acht Gleise für den Fern- und Regionalverkehr sind deutlich zu wenig:
[Der Hamburger Hauptbahnhof ist] „Größter Flaschenhals im Netz der Deutschen Bahn“ – Rüdiger Grube, 16.07.16
Auch die angestrebte Verdopplung der Fahrgäste wäre mit den zwei bis drei zusätzlich geplanten Gleisen im Fernbahnteil des Hauptbahnhofs nicht möglich (Umwidmung Gleis 3 und 4 für Fernverkehr durch 2 neue S-Bahn-Tunnelgleise im Rahmen des VET, Neuerrichtung eines Bahnsteigs am Gleis 9 unter Entfall von Gleis 10).
Im Deutschlandtakt kann deswegen das Angebot in viele Verkehrsrichtungen nicht erweitert werden, in Teilen wird es sogar verschlechtert. So verkehrt zum Beispiel die schnellste Verbindung nach München nur noch alle 120 Minuten statt alle 60 Minuten.
Und auch mit dem derzeitigen Angebot sind Fußwege und Bahnsteige im und um den Hauptbahnhof stark überfüllt. Der angedachte Umbau des Hauptbahnhofs [2] inklusive Einhausung der Steintordammbrücke hat in diesem Zusammenhang keinen nennenswerten verkehrlichen Mehrwert, sondern schafft lediglich neue Laden- und Büroflächen.
Das Problem ist aufgefallen, und deswegen brachte der der damalige Staatssekretär im Verkehrsministerium, Enak Ferlemann, schon 2020 „als spätere Ergänzung” zum VET ein Fernbahn-Tunnelbauwerk mit großem Tiefbahnhof unter dem Hauptbahnhof ins Spiel [3] – ein Projekt, das in seinen Dimensionen sogar wohl Stuttgart 21 übertreffen würde.
Dass der VET die eigentliche Problematik nicht angeht, ist also bekannt!
Durch den Neubau des Fehmarnbelttunnels ist eine Zunahme im Personenverkehr von und nach Kopenhagen über die Vogelfluglinie zu erwarten, auch von und nach Destinationen südlich von Hamburg. Eine sinnvolle Verlängerung von Linien aus Kopenhagen über den Hamburger Hauptbahnhof hinaus scheitert allerdings dort, weil es keine leistungsfähige Verknüpfungsmöglichkeit gibt. Derzeit steht nur Gleis 8 zur Verfügung, um Verbindungen von (Kopenhagen-) Lübeck über den Hauptbahnhof weiter in Richtung Süden durchzubinden. Die Benutzung dieses Gleises erfordert einen Richtungswechsel und erzwingt viele Fahrwegkreuzungen. Eine Verknüpfung der neuen Magistrale aus Skandinavien mit dem mitteleuropäischen Schienenenetz ist also nur schwer umsetzbar und dementsprechend auch im Deutschlandtakt nicht vorgesehen – wer von Lübeck/Kopenhagen kommend weiter in Richtung Süden will, wird umsteigen müssen.
- Schaffung überflüssiger Kapazitäten für de-facto Leerfahrten
- Nur Symptombehandlung – Überlastung des Hauptbahnhofs bleibt als eigentliches Problem ungelöst
🡪 Gewaltiger von Ferlemann angedachter Ergänzungstunnel zur Problemlösung (Stuttgart 21)
- Deutschlandtakt: Verbindungen gegenüber Status quo kaum erweitert
- Neue Fehmarnbelt-Achse: Fehlende Verknüpfung mit dem mitteleuropäischen Fernbahnnetz
- Sperrung S-Bahn-Citytunnel in eine Richtung für knapp 7 Jahre